Ein systemtheoretischer Blick auf Medizin und was Leadership davon lernen kann.
Die Aussage „Kein Arzt der Welt kann einen Menschen heilen“ klingt auf den ersten Blick provokant, vielleicht sogar verstörend.
Zugleich steht außer Frage, dass die Errungenschaften der modernen Medizin von unschätzbarem Wert sind.
Wie also lassen sich diese beiden Perspektiven miteinander vereinbaren? Der Schlüssel liegt in der Systemtheorie, genauer in dem Konzept der Autopoiese, das nicht nur ein grundlegendes Verständnis für lebende Systeme liefert, sondern auch eine faszinierende Analogie zwischen medizinischer Heilung und modernem Führungsverständnis aufzeigt.
Autopoiese: Die Selbsterschaffung lebender Systeme
Der Begriff der Autopoiese wurde von den chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela geprägt und beschreibt die Fähigkeit lebender Systeme, sich selbst zu erzeugen, zu erhalten und zu regenerieren. Ein autopoietisches System – etwa ein Mensch – organisiert und erneuert sich kontinuierlich aus sich selbst heraus.
- Grundprinzip: Ein autopoietisches System interagiert mit seiner Umwelt, bleibt dabei aber in seinem Kern autonom. Es nimmt Inputs (z. B. Nährstoffe, Informationen oder Medikamente) auf, verarbeitet diese intern und entscheidet über die Art und Weise, wie es darauf reagiert.
- Anwendung in der Medizin: Die Heilung geschieht letztlich durch die Selbstorganisationsprozesse des menschlichen Körpers. Ein gebrochener Knochen kann nur durch die Zellregeneration des Körpers heilen; Medikamente oder Therapien setzen lediglich Impulse, um diesen Prozess zu unterstützen oder zu optimieren.
- Der Knochen wächst „von selbst“ zusammen. Damit das in der optimalen Positionierung der Knochen zueinander geschehen kann, braucht es manchmal eine chirurgische Intervention.
Die Aufgabe der Medizin besteht daher darin, die Autopoiese zu unterstützen: durch korrekte Diagnosen, gezielte Interventionen und die Schaffung von Bedingungen, die die Selbstheilungskräfte des Systems Mensch aktivieren.
Die Analogie zur modernen Führung
Ein modernes Führungsverständnis kann aus diesem systemtheoretischen Ansatz viel lernen. Wie ein Arzt ist auch eine Führungskraft nicht in der Lage, direkt und direktiv „heilend“ oder „verändernd“ in ein Team oder eine Organisation einzugreifen. Stattdessen liegt die Aufgabe darin, Bedingungen zu schaffen und Impulse zu setzen, die es dem System ermöglichen, sich selbst zu entwickeln.
Parallelen zwischen Arzt und Führungskraft:
Diagnose statt Allmacht: Ein Arzt stellt eine Diagnose und interpretiert Symptome, um die richtigen therapeutischen Maßnahmen einzuleiten. Ebenso muss eine Führungskraft die Dynamiken und Bedürfnisse ihres Teams erkennen und die Ziele der Organisation im Blick behalten, bevor sie Handlungen initiiert.
Impulse setzen: Ärzte setzen therapeutische Impulse – sei es in Form von Medikamenten, Operationen oder Rehabilitationsprogrammen. Analog gibt eine Führungskraft Orientierung, Feedback oder strategische Richtungsentscheidungen, die als Anregung für die Weiterentwicklung des Teams und der Organisation dienen.
Selbstorganisation fördern: Während der Arzt den Heilungsprozess nicht direkt steuern kann, sondern darauf vertraut, dass der Körper die notwendigen Prozesse eigenständig aktiviert, hat auch eine Führungskraft nicht die Kontrolle über jedes Detail. Sie muss stattdessen darauf vertrauen, dass Teams eigenständig Lösungen finden und sich an Veränderungen anpassen können.
Rahmenbedingungen gestalten: In der Medizin spielt das Umfeld – etwa Hygiene, Ruhe und die richtige Dosierung von Medikamenten – eine zentrale Rolle für die Heilung. Ebenso muss eine Führungskraft ein Umfeld schaffen, das psychologische Sicherheit, Innovationsfreude und Resilienz fördert.
Bedeutung in der VUCA-Welt
Die Analogie zwischen Medizin und Führung wird in der VUCA-Welt besonders relevant. Organisationen stehen heute vor Herausforderungen, die durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägt sind. In solchen Kontexten ist es umso wichtiger, dass:
- Führung auf Vertrauen in die Selbstorganisationsfähigkeit setzt: Zentralisierte Kontrolle stößt schnell an ihre Grenzen.
- Impulse gezielt gesetzt werden: Um systemische Entwicklungen anzustoßen, braucht es Klarheit in der Zielsetzung und Flexibilität in der Umsetzung.
- Rahmenbedingungen kontinuierlich hinterfragt werden: Der dynamische Charakter der VUCA-Welt erfordert ständige Anpassungen an neue Anforderungen.
Fazit
„Kein Arzt der Welt kann einen Menschen heilen“ ist nicht nur eine wissenschaftlich fundierte Beobachtung, sondern auch eine wertvolle Metapher für modernes Leadership. Während die Medizin auf die Autopoiese des menschlichen Körpers vertraut, sollte Führung auf die Selbstorganisationsfähigkeit von Teams und Organisationen setzen. Es ist die Kunst, Impulse zu geben, ohne Kontrolle zu erzwingen, und Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Menschen und Systemen erlauben, ihr volles Potenzial zu entfalten. In einer zunehmend komplexen Welt ist dies eine der zentralen Kompetenzen, die sowohl in der Medizin als auch in der Führung den Unterschied zwischen Erfolg und Stagnation ausmacht.