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Weg mit der Hierarchie? Moment mal…

Funktionieren hierarchiefreie Organisationen?

Die Idee einer hierarchiefreien Organisation fasziniert viele, insbesondere in Zeiten, in denen Agilität, Selbstorganisation und partizipative Entscheidungsfindung als zentrale Erfolgsfaktoren moderner Unternehmen gelten. Dieser Ansatz ist keine Erfindung der New Work Bewegung. Doch kann ein Wirtschaftsunternehmen tatsächlich ohne jegliche Hierarchie funktionieren? Oder existiert in jeder Organisation, auch in formal hierarchiefreien Strukturen, eine implizite Form von Hierarchie?


Was bedeutet „hierarchiefrei“?

Eine hierarchiefreie Organisation ist ein System, in dem:

  • Keine formalen Führungspositionen oder Rangordnungen existieren.
  • Entscheidungen gleichberechtigt von allen getroffen werden können.
  • Macht und Verantwortung gleichmäßig verteilt sind.

Ein populäres Konzept ist die Selbstorganisation, wie sie beispielsweise in holokratischen Systemen oder soziokratischen Ansätzen umgesetzt wird. In solchen Strukturen werden Entscheidungen durch Konsens oder innerhalb autonomer Kreise getroffen, ohne dass eine klassische Befehlskette existiert.

Doch schon aus gesellschafts- und haftungsrechtlichen Gründen ist eine völlige Hierarchiefreiheit nicht möglich. Zumindest nach außen haftet jemand und sollte deshalb auch nach innen Interessen haben. Damit ist Hierarchie vorhanden – ungeachtet davon, wie sie im Alltag gelebt wird.


Beispiele und wirtschaftliche Realität

Es gibt Unternehmen, die sich erfolgreich als hierarchiefrei positionieren:

  1. Buurtzorg (Niederlande): Ein Pflegedienstleister, der auf selbstorganisierte Teams ohne Management setzt. Jede Gruppe entscheidet eigenverantwortlich über ihre Arbeitsweise.
  2. Haier (China): Ein globaler Konzern, der eine „mikro-unternehmerische“ Struktur verfolgt, in der Mitarbeitende wie unabhängige Unternehmer agieren.
  3. Morning Star (USA): Ein Agrarunternehmen, das auf vollständige Selbstorganisation ohne formale Hierarchien setzt.

Diese Beispiele zeigen, dass hierarchiefreie Organisationen wirtschaftlich erfolgreich sein können – jedoch oft nur unter sehr spezifischen Bedingungen.


Warum sind hierarchiefreie Organisationen selten?

Obwohl der Gedanke der Hierarchiefreiheit oft attraktiv klingt, gibt es mehrere praktische und theoretische Herausforderungen:

1. Implizite Hierarchien entstehen unvermeidlich

Selbst in hierarchiefreien Organisationen entwickeln sich oft informelle Hierarchien. Diese können auf verschiedenen Faktoren beruhen:

  • Expertise: Personen mit mehr Wissen oder Erfahrung haben häufig einen stärkeren Einfluss.
  • Charisma: Menschen mit natürlicher Autorität oder Durchsetzungsvermögen werden oft als inoffizielle Führungskräfte wahrgenommen.
  • Zugang zu Ressourcen: Wer Kontrolle über Ressourcen hat (z. B. Budgets, Netzwerke), kann Macht ausüben.

Der Sozialpsychologe J. Keith Murnighan beschreibt dies als eine natürliche Dynamik in Gruppen: Auch ohne formale Strukturen tendieren Menschen dazu, Führungspersönlichkeiten zu identifizieren.


2. Entscheidungsprozesse werden komplexer

In hierarchiefreien Organisationen sind Entscheidungsprozesse oft zeitaufwändiger. Ohne klare Zuständigkeiten kann es zu folgendem kommen:

  • Unklare Verantwortlichkeiten: Wer entscheidet in Krisensituationen?
  • Konsensdruck: Wenn alle einbezogen werden müssen, kann dies zu ineffizienten Prozessen führen.
  • Konflikte: Ohne klare Hierarchien fehlt oft eine neutrale Instanz, die bei Meinungsverschiedenheiten moderiert.

3. Skalierbarkeit

Hierarchiefreie Ansätze funktionieren oft gut in kleinen, überschaubaren Teams. Sobald Organisationen wachsen, wird die Koordination komplexer:

  • Kommunikation: In größeren Gruppen wird es schwieriger, alle einzubinden.
  • Koordinationsaufwand: Ohne zentrale Steuerung sind gemeinsame Zielsetzungen schwer zu erreichen.

Größere Organisationen wie Haier lösen dies, indem sie in kleinere, autonome Einheiten zerfallen, die wie „Unternehmen im Unternehmen“ agieren. Dieses Modell zeigt, dass vollständige Hierarchiefreiheit auf Unternehmensebene selten praktikabel ist.


4. Verantwortung und Führung bleiben essenziell

Selbstorganisation erfordert ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein, Selbstdisziplin und Reife. Nicht alle Teams oder Mitarbeitenden verfügen über die nötigen Kompetenzen, um ohne klare Anweisungen produktiv in enger Abstimmung mit anderen zu arbeiten.


Existieren versteckte Hierarchien in formal hierarchiefreien Organisationen?

Selbst in formal hierarchiefreien Organisationen existieren häufig implizite Hierarchien, die sich zwar nicht in einem Organigramm, aber in der Interaktion und Entscheidungsfindung zeigen. Diese können sich auf folgende Weise manifestieren:

  • Macht durch Expertise: Wer mehr Wissen hat, hat oft auch mehr Einfluss.
  • Sozialer Status: Charismatische oder besonders kommunikative Personen übernehmen oft Führungsrollen.
  • Zugang zu Informationen: Wer Informationen kontrolliert, steuert oft indirekt die Entscheidungsfindung.

Soziologische Studien zeigen, dass Hierarchien ein grundlegendes Phänomen menschlicher Interaktion sind. An dieser Stelle sei an das Feld der Gruppendynamik verwiesen. 

Hierarchie bringt auch viele Vorteile:  Sie bietet Orientierung, Struktur und Effizienz – auch wenn sie in formale Entscheidungsprozesse nicht integriert ist. Gibt es des nicht, muss das jedes Mal neu ausdiskutiert werden.

Reduktion von Hierarchie zugunsten von Selbstorganisation kann sehr hilfreich sein, wenn es um das Bearbeiten komplexer Aufgabenstellungen geht. Je geringer dir Komplexität, desto effizienter kann Hierarchie ihre Wirkung entfalten. 


Fazit: Kann Hierarchiefreiheit wirtschaftlich funktionieren?

Ja, hierarchiefreie Organisationen können wirtschaftlich funktionieren, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen:

  • Kleine, homogene Teams: Kleinere Einheiten mit klaren Zielen sind oft erfolgreicher.
  • Hohe Kompetenz und Reife: Mitarbeitende müssen eigenverantwortlich und diszipliniert arbeiten können.
  • Kulturelle Voraussetzungen: Vertrauen, Offenheit und Konfliktfähigkeit sind essenziell.

Jedoch bleibt die vollständige Hierarchiefreiheit eine theoretische Ausnahme. In den meisten Organisationen entstehen informelle oder implizite Hierarchien, die Orientierung und Struktur bieten. Hierarchiefreiheit ist also weniger ein absolutes Konzept als vielmehr ein Spektrum: Sie kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie mit geeigneten Mechanismen der Koordination und Verantwortung ergänzt wird.

Der Schlüssel liegt darin, die Balance zu finden – zwischen Autonomie und Führung, zwischen Selbstorganisation und klarer Rahmensetzung. Statt Hierarchie vollständig abzuschaffen, sollten Organisationen ihre Hierarchien hinterfragen und gezielt so gestalten, dass sie Effizienz, Transparenz und Zusammenarbeit fördern.

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