Warum Organisationen kein Familiengefühl für Mitarbeitende schaffen sollten
In der heutigen Arbeitswelt ist es nicht unüblich, dass Unternehmen ein „Familiengefühl“ als Bestandteil ihrer Unternehmenskultur propagieren. Die Absicht dahinter mag gut gemeint sein: Mitarbeitende sollen sich wertgeschätzt, sicher und eingebunden fühlen. Doch aus systemtheoretischer Sicht birgt dieses Konzept erhebliche Risiken und kann organisationale Dynamiken langfristig beeinträchtigen. Um dies zu verdeutlichen, lohnt sich ein Blick auf die Unterschiede zwischen den systemischen Strukturen und Dynamiken von Organisationen und Familien.
1. Systemische Unterschiede zwischen Familien und Organisationen
Familien: Affektive Primärsysteme
Familien sind archetypische Primärsysteme, deren Hauptzweck die emotionale Bindung, Fürsorge und Reproduktion ist. Systemtheoretisch gesprochen zeichnen sich Familien durch affektive Kommunikation aus, die auf persönlicher Zugehörigkeit und langfristiger gegenseitiger Verpflichtung basiert. Die Rollen in einer Familie sind primär durch biologische und emotionale Beziehungen definiert (Eltern, Kinder, Geschwister).
Organisationen: Funktionale Sekundärsysteme
Im Gegensatz dazu sind Organisationen funktionale Sekundärsysteme. Ihr Hauptzweck liegt in der Erfüllung spezifischer Aufgaben und Ziele, z. B. der Produktion von Gütern oder Dienstleistungen. Die Rollen in Organisationen werden durch formale Funktionen und Zuständigkeiten definiert, nicht durch persönliche Beziehungen. Kommunikation in Organisationen ist vor allem sachlich, zielgerichtet und orientiert sich an Leistung und Effizienz.
2. Gefahren eines Familiengefühls in Organisationen
a) Verwischung von Rollen und Verantwortlichkeiten
In einer Organisation sind klare Rollen und Verantwortlichkeiten essenziell, um Effizienz und Zielorientierung zu gewährleisten. Das Familiengefühl fördert jedoch eine emotionale Bindung, die dazu führen kann, dass die Grenzen zwischen beruflichen und persönlichen Erwartungen verschwimmen. Mitarbeitende könnten beispielsweise erwarten, dass die Organisation persönliche Probleme löst, ähnlich wie es Familienmitglieder tun würden, was zu unklaren Erwartungen und Frustrationen führen kann.
b) Dysfunktionale Bindungsdynamiken
In Familien sind Bindungen oft bedingungslos. In Organisationen hingegen basiert die Beziehung zwischen Mitarbeitenden und Arbeitgeber auf einem wechselseitigen Leistungsaustausch: Arbeitskraft gegen Vergütung. Das Familiengefühl kann diese Dynamik verzerren und unrealistische Erwartungen fördern, etwa dass die Organisation „wie eine Mutter“ für alle Belange sorgt oder Mitarbeitende „wie Geschwister“ harmonisch zusammenarbeiten. Solche Erwartungen sind in der Realität schwer zu erfüllen und führen häufig zu Enttäuschungen.
c) Fehlende Trennbarkeit von Arbeit und Privatem
Systemtheoretisch betrachtet erfordert die Funktionsweise von Organisationen eine strikte Rollendifferenzierung. Das Familiengefühl kann jedoch dazu führen, dass sich Mitarbeitende emotional stärker an die Organisation binden, als es für eine gesunde berufliche Distanz sinnvoll ist. Die Folgen reichen von Burnout durch übermäßige Loyalität bis hin zu Schwierigkeiten, berufliche Beziehungen zu beenden, etwa bei Kündigungen.
d) Konflikte und Hierarchie
Familienhierarchien sind stark emotional geprägt und oft implizit. Organisationen hingegen operieren mit expliziten, formellen Hierarchien, die auf Kompetenzen und Funktionen basieren. Wenn das Familiengefühl in Organisationen überbetont wird, können Konflikte schwieriger adressiert werden, da persönliche Loyalitäten oder emotionale Dynamiken die sachliche Kommunikation und Konfliktlösung erschweren.
3. Systemische Parallelen und Kontraste: Familien- vs. Organisationsdynamiken
Luhmanns Perspektive: Autopoiesis und Differenzierung
Niklas Luhmann, einer der zentralen Denker der Systemtheorie, betont, dass soziale Systeme autopoietisch sind – sie reproduzieren sich durch ihre eigenen Operationen. Familien reproduzieren sich durch affektive Bindung, während Organisationen dies durch Entscheidungsprozesse und Zielorientierung tun. Versucht eine Organisation, sich wie eine Familie zu verhalten, riskiert sie, ihre funktionale Differenzierung zu verlieren und in widersprüchliche Kommunikationsmuster zu geraten.
Spannung zwischen Inklusion und Exklusion
Familien streben nach maximaler Inklusion – jedes Mitglied gehört unverzichtbar dazu. Organisationen hingegen arbeiten mit der Logik von Inklusion und Exklusion, d. h. Mitarbeitende werden aufgrund ihrer Leistung und Passung einbezogen oder ausgeschlossen. Ein Familiengefühl kann diese Logik untergraben und das schwierige, aber notwendige Management von Trennungen erschweren.
4. Alternative Ansätze zur Mitarbeiterbindung
Anstelle eines Familiengefühls sollten Organisationen eine Kultur des Respekts, der Fairness und der Professionalität fördern. Hier einige Alternativen:
a) Psychologische Sicherheit
Psychologische Sicherheit bedeutet, dass sich Mitarbeitende sicher fühlen, ihre Meinung zu äußern und Fehler zu machen, ohne negative Konsequenzen zu befürchten. Dies fördert Vertrauen, ohne emotionale Abhängigkeiten zu schaffen.
b) Klare Werte und Ziele
Organisationen sollten sich auf gemeinsame Werte und Ziele konzentrieren, die eine verbindende Kraft schaffen, ohne persönliche Bindungen zu erfordern.
c) Förderung von Autonomie und Selbstverantwortung
Ein Gefühl von Eigenverantwortung und Autonomie stärkt die Motivation und das Engagement der Mitarbeitenden, ohne sie emotional an die Organisation zu binden.
5. Fazit: Professionelle Distanz als Erfolgsfaktor
Organisationen, die versuchen, ein Familiengefühl zu schaffen, ignorieren die fundamentalen Unterschiede zwischen affektiven Primärsystemen und funktionalen Sekundärsystemen. Stattdessen sollten sie eine Unternehmenskultur fördern, die professionelle Beziehungen, klare Verantwortlichkeiten und gesunde Distanz in den Vordergrund stellt. Nur so können sie nachhaltig erfolgreich sein und gleichzeitig die psychologische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden wahren. Der Versuch, eine Familie zu sein, führt hingegen oft zu dysfunktionalen Erwartungen und Konflikten, die weder den Mitarbeitenden noch der Organisation dienen.