Zum Inhalt

Grottenschlechtes Management & Schönwetter in Shanghai

Wie Wetterwerte in den Businessreport kamen und ich dann kündigte. Eine wahre Geschichte. 

Schlechtes Management tritt häufig dort zutage, wo formale Anforderungen wichtiger zu sein scheinen als sinnvolle Inhalte. Eine selbst erlebte Anekdote mit systemischen Erkenntnissen.

Zwischen 1998 und 2005 war ich Mitarbeiter in einem bekannten internationalen Softwarekonzern.

Der Chef in England und das Reporting-Ritual

Als Angestellter in Wien unterstand ich fachlich einem Vorgesetzten in Großbritannien. Alle zwei Wochen war ein detaillierter Businessreport zu erstellen und in Form eines sehr umfangreichen Excel-Dokuments hochzuladen. Bei sorgfältiger Datensammlung und damals noch händischem Zusammenführen sind dazu ca. zwei volle Arbeitstage erforderlich gewesen – im Zweiwochentakt. Das alleine wäre schon beachtlich.

Rückmeldungen, Nachfragen zu den gelieferten Berichten? Fehlanzeige. Stattdessen zählte einzig die Pünktlichkeit. Schon aus minimalen Verzögerungen machte der Chef in UK sofort ein großes Drama.

Der Forscher in mir: Die Geburtsstunde einer Hypothese

Nach mehreren Monaten ohne jegliche inhaltliche Reaktion kam der Gedanke auf, dass sich niemand mit den mühsam erarbeiteten Reports auseinandersetzt. Das Ganze schien lediglich eine bürokratische, kafkaeske Pflichtübung ohne Mehrwert zu sein.

In mir schlug damals schon ein sozialwissenschaftliches Forscherherz.
(Viele Jahre später, habe ich eine Professur an einer Fachhochschule für Wirtschaft & Management erhalten – allerdings nicht basierend auf dieser Anekdote;).

Eine Hypothese drängte sich auf: Diese Reports liest oder versteht der Chef in UK nicht. Was macht ein Forscher, wenn er Hypothesen hat? Er überprüft empirisch.

Das Experiment mit den Wetterdaten

Statt die üblichen Geschäftszahlen einzutragen, habe ich begonnen, Wetterwerte aus Metropolen der Welt in das Excel-Dokument einzupflegen. Bis alle Zellen befüllt waren: Temperatur, Luftdruck, Taupunkt, Windgeschwindigkeit, Niederschlag,… Wien, London, Rom, Unterpremstätten, Seattle, Shanghai, Sankt Pölten, Tokyo,… – alles echte Wetterwerte, ohne Einheitsangaben. Die Werte waren im Businesskontext völlig absurd, absolut unplausibel und hätten wirklich sofort auffallen müssen.

Ab damit. Pünktlich auf den Server in UK. Dann habe ich gewartet. Eine Stunde, einen Tag, eine Woche, zwei Wochen. Nichts.

Eine einmalige Bestätigung der Hypothese darf dem seriösen, empirischen Forscher natürlich nicht genügen. Der nächste Businessreport zwei Wochen später, das gleiche Spiel: keine Reaktion.

Um das abzukürzen: ich habe ein volles halbes Jahr lang alle 2 Wochen Wetterwerte aus aller Welt berichtet. Um mir das Leben etwas einfacher zu machen habe ich irgendwann das Befüllen des Excelberichts automatisiert. Werte abtippen ist wirklich lästig, es ging dann mit einem Klick. Zack – fertig. Wichtig war nur: pünktlich liefern.
Der Benefit: alle zwei Wochen zwei Tage gewonnen.

Keine Nachfrage, keine Beschwerde. Auch der Betriebsarzt wurde nie auf eine Visite zu mir geschickt. Wäre nur ein flüchtiger Blick ins Dokument geworfen worden, wären die Zahlen offensichtlich absurd erschienen. Ein halbes Jahr lang! Völlig verrückt. Einige Kollegen wussten davon, weil ich es ihnen erzählt habe. Sie haben alle von sich aus dicht gehalten.

Experiment abgeschlossen, Kündigung

Irgendwann war mir klar, dass der ganze Job keine persönliche Zufriedenheit mehr bringen würde. Auch sonst hätte mich keine real erreichbare Position in dem Konzern (alles bei bester Bezahlung) mehr erfüllt.

Mein Entschluss zu kündigen war gefallen. Kündigungsgespräch beim Personalchef in Wien. Seine erste Reaktion auf meine Kündigungsansage: „Wir wollen nicht, dass du gehst.“ Dann habe ich ihm erzählt, was ich seit einem halben Jahr mache. Wir haben uns recht rasch bei allen Details der Vertragsauflösung geeinigt.

Die Systemtheorie lässt grüßen

Diese Episode spricht eine deutliche Sprache hinsichtlich blinder Bürokratie und reiner Ritualpflege. Niklas Luhmanns Systemtheorie kommt hier ins Spiel: Soziale Systeme neigen zur Selbstreferentialität, sie erhalten sich selbst aufrecht, ohne zwingend einen Blick auf ihre Umwelt zu werfen. Werden Berichte nur zur reinen Pflicht erstellt, die niemand evaluiert und scheinbar überhaupt nicht benötigt werden, verfestigen sich Abläufe, in denen Form wichtiger als Inhalt wird. Pünktlichkeit mutiert zur einzigen „Kennzahl“, während eine inhaltliche Auseinandersetzung komplett ausbleibt.

Führung und Motivation in Zeiten sinnfreier Routinen

Leadership lebt davon, dass Mitarbeitende ihre Arbeit als sinnvoll und wertgeschätzt empfinden. Fehlt es an konstruktivem Feedback, schwindet laut der Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan) die intrinsische Motivation. Das Abarbeiten formaler Pflichten – ohne Erkenntnisgewinn für das Unternehmen oder die Person selbst – führt oft zu innerer Kündigung. Den Managern entgehen dadurch wertvolle Hinweise auf Optimierungsbedarf, Marktveränderungen oder gar interne Krisen.

Lessons Learned – Wie besser führen?

  1. Klare Zielsetzung: Vor jeder Berichtspflicht sollte hinterfragt werden, welchen Zweck sie erfüllt. Werden Daten bloß gesammelt, ohne dass sie jemand analysiert, vergeuden Teams unnötig Ressourcen.
  2. Regelmäßige Feedbackschleifen: Konstruktive Rückmeldung zu Reportinhalten ist essenziell, um Mitarbeitende zu motivieren und den Sinn ihrer Arbeit deutlich zu machen.
  3. Offener Umgang mit Kritik: Unternehmens- und Führungskultur darf nicht nur positive Botschaften tolerieren. Wer echte Probleme kennt, kann sie rechtzeitig angehen.
  4. Flexibilität statt starrer Regeln: Strikte Fixierung auf Termintreue ist wenig hilfreich, wenn der inhaltliche Mehrwert ausbleibt. In manchen Fällen können weniger häufige, aber aussagekräftige Berichte zielführender sein.
  5. Fokus auf Wertschöpfung: Ein guter Leader sollte die Frage stellen, welcher Wert für Kunden und Mitarbeitende entsteht. Die reine Einhaltung einer Pflicht hat keinen Bestand, wenn sie nicht zu besseren Entscheidungen führt.

Fazit

Erfahrungen wie diese verdeutlichen, wie schnell Managementprozesse inhaltsleer werden können, wenn allein Formalitäten im Vordergrund stehen. Das pünktliche Einreichen von Berichten ohne jegliche Prüfung ihrer Substanz führt zu paradoxen Situationen, in denen sogar völlig unsinnige Daten eingetragen werden können, ohne dass es jemandem auffällt. Gutes Leadership verlangt stattdessen ein offenes Ohr für inhaltliche Aspekte, ein Gespür für praxisrelevante Informationen und die Fähigkeit, Mitarbeitende mit konstruktivem Feedback zu unterstützen. Nur so lässt sich vermeiden, dass Reporting zur hohlen Pflichtübung verkommt – und nur so entsteht ein Arbeitsumfeld, in dem sowohl Unternehmen als auch Beschäftigte gedeihen können.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert