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Mein systemisches Menschenbild

Die persönlichen Annahmen, wie Menschen ‘funktionieren’, also die eigene Sicht auf Menschen, ist ausschlaggebend, wie man mit Menschen in Kontakt tritt, wie man sich ihnen gegenüber verhält und wie man sie behandelt.

Drei systemische Konzepte prägen mein ganz persönliches Menschenbild:

  • die Unterscheidung zwischen trivialen und non-trivialen Systemen
  • die grandiosen Fähigkeiten der Autopoiese
  • der sekundäre Problemgewinn, dieses Teufelszeug

Die praktische Anwendung trivialer und non-trivialer Systeme

Triviale Systeme

Triviale Systeme sind unbelebte Dinge: Steine, Maschinen, etc. Das Wesen unbelebter Dinge ist, dass sie auf die völlig gleiche Behandlung immer gleich reagieren. Eine Fritteuse wird, wenn man sie mit Strom versorgt, Frittieröl einfüllt und einschaltet immer das gleiche Resultat bringen. Das Öl wird heiß und man kann Pommes frittieren. Das war gestern so, ist heute so und wird morgen so sein. Der gleiche Input erzeugt immer den gleichen Output.

Und wenn das einmal nicht so ist, wenn der gleiche Input zu einem anderen Output führt, sagt man zu dieser Maschine sie ist kaputt, wirft sie weg oder bringt sie in die Werkstatt.

Das ist übrigens nicht nur bei relativ einfachen Maschinen so, auch komplizierte Geräte, wie zum Beispiel große Flugzeuge, sollten bitteschön bei gleichen Einstellungen immer gleich reagieren. Wenn nicht – kaputt.

Als psychologischer Berater und Leadership-Coach habe ich viele Führungskräfte kennen gelernt, die ein triviales Menschenbild haben und, salopp formuliert, ihre Mitarbeitenden wie Fritteusen behandeln. Gelegentlich bekomme ich von Führungskräften scheinbar kaputte Mitarbeitende ins Coaching geschickt, wie Autos in die Werkstatt geschleppt werden. Die Führungskräfte haben das zweifelsohne in bester Absicht getan. Aber Menschen, die nach dem dritten gleichen Input immer noch nicht den Output zeigen, den sich die Führungskraft erwartet, sind nicht kaputt, sondern benötigen einfach etwas anderes.

Non-triviale Systeme

Non-triviale Systeme sind belebte Systeme. Sie haben Stoffwechsel und können sich, organisch gesehen, selbst reproduzieren. Organismen, Pflanzen, Tiere, Menschen gehören dazu. Kein Zufall, dass maßgebliche Entwicklungen der Systemtheorie aus der Biologie kommen.

Das Wesen non-trivialer Systeme ist, dass der wiederholte, völlig gleiche Input mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit einen, wenn auch geringen, so doch anderen Output produziert.

Ein Bespiel: Stellen Sie sich vor, ich würde Ihnen einen Witz erzählen. Nehmen Sie bitte an, der Witz ist gut, auch gut erzählt und Sie kennen ihn noch nicht. Ihre Reaktion auf den Witz wird sein, das Sie lachen oder zumindest schmunzeln. Input: Witz, Output: Lachen. Hätte ich nun ein triviales, mechanistisches Menschenbild, würde ich Ihnen den gleichen Witz noch einmal erzählen, um gute Stimmung zu machen. Logisch, hat ja schon einmal funktioniert. Tatsächlich werden Sie nun aber nur etwas irritiert lächeln, weil Sie höflich sein wollen. Gleicher Input, anderer Output. Das merke ich natürlich und denke mir, Sie sind nicht gänzlich, aber doch ein bisschen kaputt. Deshalb gebe ich Ihnen noch eine Chance und erzähle den gleichen Witz ein drittes Mal. Spätestens jetzt es ist nicht mehr lustig und Sie stellen ungünstige Hypothesen über meinen Geisteszustand auf. Warum? Ich mache doch immer das Gleiche. Sie haben sich verändert, Sie haben den Witz gelernt. Ihr Output zu meinem Input hat sich verändert. Und ich scheitere an meinem Menschenbild.

Menschen sind immer für Überraschungen gut. Jedes Individuum ist eine spannende Blackbox und es interessiert mich einfach, wie Menschen mit dem umgehen, was Ihnen der Alltag als Input liefert.

Für Führungskräfte, aber auch in der Rolle als Elternteil, Partner,… stellt sich Dich spannende Frage, wie man mit dem Gegenüber umgeht und welche Wechselwirkungen die Folge sind.

Die ungeheuer mächtige Autopoiese

Autopoiese ist die Fähigkeit belebter Systeme, sich selbst zu organisieren. Jedes belebte System hat Ziele, mindestens jedoch das Ziel der Selbsterhaltung bzw. die eigene Art zu erhalten. Autopoiese ist der wunderbare Mechanismus, der auf vielfältige Weise dafür sorgt.

Ein Beispiel, Ärzte werden das jetzt nicht gerne hören: kein Arzt der Welt kann eine Krankheit heilen. Der Arzt heilt zum Beispiel keinen Knochenbruch. Das kann nur der Körper selbst, das ist Autopoiese. Damit diese Autopoiese gut gelingen kann, die Knochenteile wieder im richtigen Winkel und möglichst störungsfrei zusammen wachsen, braucht es gute Umgebungsbedingungen, in dem Fall das Ruhigstellen der gebrochenen Knochenteile, das Einrichten und anschließende ‘Eingipsen’. Die Heilung oder allgemeiner: die Selbstorganisation, das Zusammenwachsen der Knochenteile, macht der Körper selbst. Das ist Autopoiese.

Sowie es die Aufgabe des medizinischen Personals ist, für die Selbstheilung günstige Bedingungen zu schaffen, ist es die Aufgabe von Führung, dafür zu sorgen, dass Mitarbeitende Bedingungen vorfinden, um im Sinne der Selbsterhaltung der Organisation handeln und sich selbst organisieren zu können. Bei günstigen Umgebungsbedingungen gelingt das besser, bei anderen schlechter oder gar nicht. Da sind wir jetzt bei den Themen des sozialen Klimas und der Organisationskultur.

Der sekundäre Problemgewinn ist ein fieses systemisches Gesetz

Was ist das Gute im Schlechten? Diese Frage beschreibt den sekundären Problemgewinn. Man kann davon ausgehen, dass jedes Verhalten, das als problematisch wahrgenommen wird und trotzdem über längere Zeit besteht, einen Versuch der Problemlösung darstellt. Paul Watzlawick sagt dazu: Wenn die Lösung zum Problem wird.

Ein Beispiel: Trotz mehrmaliger Kritikgespräche kommt ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin immer wieder zu spät, oder zeigt irgendein anderes unpassendes Verhalten. Das Schlechte daran ist, dass die Zusammenarbeit so nicht funktioniert, das Arbeitsklima leidet, Kunden verloren gehen,… Trotzdem behält dieser Mensch sein problematisches Verhalten bei. Als Coach macht man sich nun mit dem Klienten auf die Suche nach dem persönlichen, meist völlig unbewussten Vorteil des Klienten, trotz gleichzeitigem Schaden. Man könnte in dem Fall heraus finden, dass dieser Mensch sich übergangen fühlt und durch dieses Verhalten endlich Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit von der Führungskraft erhält. Dies, obwohl es gleichzeitig schadet und die Aufmerksamkeit eine negative ist. Es ist jedoch immerhin Aufmerksamkeit.

Die lösende Frage ist, wie ich als Führungskraft interveniere, damit dieser Mensch das problemhafte Verhalten nicht mehr zeigen muss und gleichzeitig das Gefühl hat, OK zu sein.

Gerade in Veränderungsprozessen ist Widerstand ein deutliches Zeichen eines sekundären Problemgewinns. Damit sollte sich die Führung auseinander setzen, wenn sie den Widerstand nicht brachial brechen, sondern konstruktiv auflösen will.

Noch ein ganz anderes Beispiel, eines von vielen Gustostücken des sekundären Problemgewinns: Ein Klient sitzt bei mir in der psychologischen Beratung. Sein Anliegen: er hat eine chronische Erkrankung, die nicht lebensgefährlich ist, aber die Lebensqualität deutlich einschränkt. Zur psychologischen Beratung ist der Klient mit dem Wunsch gekommen, einen guten inneren Umgang mit dem Problem zu finden. Eine meiner ersten Fragen an ihn war die nach dem sekundären Problemgewinn: “Auch wenn die Erkrankung für Sie eine Bürde ist, wobei nützt sie Ihnen?” Und zu seiner eigenen Überraschung fand er recht schnell sogar zwei Antworten, die ihm zuvor nicht bewusst waren. Erstens: er hasst seine Arbeit und wenn er durch die Krankheit ein Jahr durchgehend in Krankenstand ist, kann er endlich früher in Pension gehen. Zweitens: Durch seine Erkrankung muss seine Familie viel Rücksicht auf ihn nehmen. Er sagte, er spüre dadurch sehr viel Aufmerksamkeit und Liebe von seiner Familie.

Ohne es böse zu meinen, könnte man auch sagen, er hat unbewusst das Gefühl, die Krankheit zu brauchen, um seinem gehassten Beruf zu entkommen und in seiner Familie wichtig, oder gar mächtig zu sein. Das ist aus seiner Sicht das Gute im Schlechten. Dafür nahm er – unbewusst – viel in Kauf.

Wie ging diese Beratung aus? Nachdem er seine Vorteile formuliert hatte und damit erstmals aus dem Unbewussten ins Bewusste gehoben hat, erhellte sich sein Gesicht und er sagte: “… und bis ich in Pension bin, will ich an meiner Krankheit gar nichts ändern.”

Auch wenn das für Außenstehende befremdlich klingen mag, es ist eine gültige, bewusste Entscheidung dieses Menschen. in meiner Rolle als psychologischer Berater muss ich sie nicht teilen.

Das Spannende daran ist auf jeden Fall, dass er nicht mehr nur Opfer seiner Krankheit ist, sondern ab sofort damit aktiv bewusst sein Berufsleben steuert und auch Bewusstsein über seine Rolle in der Familie erlangt hat. Diese Erkenntnis ist in ihm nicht mehr reversibel, sie bleibt ihm und er muss sie nun verantworten. Wie es ausgegangen ist, weiß ich leider nicht. Ich habe nie wieder von ihm gehört.

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