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Organisationen in Entwicklungskrisen – auch Firmen haben Pubertät

Entwicklungskrisen von Organisationen nach dem Modell von Lievegoed und Glasl

Das Modell der Organisationsentwicklung von Frederic Lievegoed und später erweitert durch Friedrich Glasl bietet eine tiefgehende und systemische Perspektive auf die Dynamik von Organisationen.

Es beschreibt, wie Organisationen durch verschiedene Entwicklungsstufen gehen und wie sie mit spezifischen Krisen konfrontiert werden, die an der Schwelle jeder Stufe auftreten. Dieses Modell ist nicht nur ein praktisches Werkzeug für Führungskräfte und Berater, sondern auch ein wertvoller theoretischer Rahmen für das Verständnis von Organisationsdynamiken.


Überblick

Tabelle, Überblick über organisationale Entwicklungskrisen


Die Entwicklungsstufen nach Lievegoed und Glasl

Lievegoed identifizierte drei grundlegende Entwicklungsstufen, die Organisationen durchlaufen können: Pionierphase, Differenzierungsphase und Integrationsphase. Glasl fügte später eine vierte Phase hinzu, die Assoziationsphase. Jede dieser Phasen ist durch charakteristische Merkmale, Herausforderungen und typische Krisen geprägt.

1. Pionierphase

Die Pionierphase ist die Gründungs- und Aufbauphase einer Organisation.

Merkmale:

  • Stark geprägt durch die Gründerpersönlichkeit(en), die häufig als zentrale Führungskraft agiert.
  • Strukturen und Prozesse sind kaum formalisiert; Entscheidungen werden ad hoc getroffen.
  • Hohe Flexibilität und Innovationskraft, aber auch Unklarheit über Rollen und Verantwortlichkeiten.
  • Die Kommunikation erfolgt meist informell, oft direkt und schnell.

Typische Krisen:

  • Krise der Führung: Die Organisation wächst über die Kapazitäten der Gründerpersönlichkeiten hinaus. Es fehlt an Delegation und klaren Strukturen.
  • Krise der Effizienz: Ohne formalisierten Ablauf entstehen Ineffizienzen, die das Wachstum behindern.

2. Differenzierungsphase

In der Differenzierungsphase entwickelt die Organisation formalere Strukturen und Prozesse, um Komplexität und Wachstum zu bewältigen.

Merkmale:

  • Einführung von Abteilungen, Spezialisierung und Hierarchien.
  • Standardisierung von Prozessen und Einführung formeller Kommunikationswege.
  • Führung wird aufgeteilt, Verantwortung verteilt sich auf verschiedene Ebenen.
  • Wachstum und Effizienzsteigerung stehen im Fokus.

Typische Krisen:

  • Krise der Bürokratie: Die zunehmende Formalisierung kann zu Stagnation, mangelnder Innovation und Frustration bei Mitarbeitenden führen.
  • Krise der Identität: Mitarbeitende fühlen sich entfremdet, da die ursprüngliche Gründungsvision durch die formalen Strukturen in den Hintergrund tritt.

3. Integrationsphase

In der Integrationsphase versucht die Organisation, die Spannung zwischen Effizienz und Flexibilität auszugleichen.

Merkmale:

  • Integration von unterschiedlichen Abteilungen und Funktionen.
  • Entwicklung einer gemeinsamen Unternehmenskultur, die über rein formale Strukturen hinausgeht.
  • Fokus auf bereichsübergreifende Zusammenarbeit und Koordination.
  • Einbindung der Mitarbeitenden in Entscheidungsprozesse.

Typische Krisen:

  • Krise der Sinnstiftung: Die Organisation muss sich mit ihrer gesellschaftlichen Rolle und ihrem Beitrag auseinandersetzen, um eine tragfähige Vision für die Zukunft zu entwickeln.
  • Krise der Agilität: Alte Hierarchien und Denkweisen behindern möglicherweise die notwendige Flexibilität in dynamischen Märkten.

4. Assoziationsphase (nach Glasl)

In dieser Phase wird die Organisation Teil eines größeren Netzwerks von Partnern und Interessensgruppen.

Merkmale:

  • Die Organisation versteht sich als Teil eines Ökosystems und pflegt enge Beziehungen zu externen Stakeholdern.
  • Werteorientierung und gesellschaftliche Verantwortung rücken stärker in den Fokus.
  • Entscheidungsprozesse sind partizipativ und inklusiv.

Typische Krisen:

  • Krise der Fragmentierung: Es besteht die Gefahr, dass die Organisation ihre eigene Identität verliert, indem sie sich zu stark auf externe Einflüsse einlässt.
  • Krise der Abhängigkeit: Die Balance zwischen Unabhängigkeit und Kooperation wird eine zentrale Herausforderung.

Entwicklungskrisen als Wachstumschancen

Jede Phase wird durch eine spezifische Krise abgeschlossen, die als Übergang zur nächsten Stufe dient. Diese Krisen sind unvermeidlich, da sie aus der wachsenden Komplexität und den inneren Spannungen der Organisation entstehen. Glasl betont, dass Krisen nicht zwangsläufig negativ sein müssen, sondern als transformative Prozesse betrachtet werden können.

Typologie der Krisen:

  1. Führungskrisen: Die Organisation muss neue Führungsmodelle etablieren, um mit zunehmender Größe und Komplexität umzugehen.
  2. Strukturkrisen: Alte Strukturen werden obsolet und behindern die Anpassung an neue Herausforderungen.
  3. Identitätskrisen: Die Organisation verliert ihren Sinn und Zweck aus den Augen und muss ihre Vision und Mission überdenken.
  4. Kooperationskrisen: Interne und externe Beziehungen werden kritisch hinterfragt und neu ausbalanciert.

Praktische Implikationen für die Organisationsentwicklung

Für Führungskräfte und Berater bietet das Modell von Lievegoed und Glasl wichtige Ansätze, um Organisationen durch ihre Entwicklungsstufen zu begleiten:

  1. Diagnose der Entwicklungsphase: Die Analyse, in welcher Phase sich die Organisation befindet, ermöglicht gezielte Interventionen.
  2. Proaktive Krisenbewältigung: Durch frühzeitiges Erkennen typischer Krisen können diese strategisch adressiert und als Chance genutzt werden.
  3. Flexibilität und Lernen: Jede Entwicklungsstufe erfordert unterschiedliche Fähigkeiten, Strukturen und Kulturen. Eine lernende Organisation kann sich an diese Anforderungen anpassen.
  4. Vision und Sinnstiftung: Insbesondere in späteren Phasen wird die klare Definition einer wertebasierten Vision entscheidend.

Fazit

Das Modell von Lievegoed und Glasl liefert einen umfassenden Rahmen für die Analyse und Entwicklung von Organisationen. Es zeigt, dass Wachstum und Veränderung nicht linear, sondern durch Krisen und Transformationen geprägt sind. Organisationen, die diese Dynamiken verstehen und aktiv gestalten, können nicht nur ihre eigene Zukunft sichern, sondern auch nachhaltig zur Gesellschaft beitragen. Führungskräfte und Berater sind gefordert, diese Prozesse mit Weitsicht, methodischem Wissen und einem klaren Werteverständnis zu begleiten.

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