Rosinen picken – und andere Glaubenssätze
Vor einigen Jahren habe ich in einem größeren Beraternetzwerk mitgearbeitet.
Weil ich auch auf englisch arbeite und mich nicht scheue, für einen Auftrag ins Flugzeug zu steigen, war ich einer der wenigen Berater im Netzwerk, die für einen Auftrag auch mal nach Südost- oder Osteuropa geflogen ist.
Karl, ein etablierter Kollege, der ebenso international arbeitete, rief mich an.
Karl: „Hallo Hannes, ich habe da einen Auftrag für dich.“
Hannes. „Hi Karl, erzähl mehr, um was geht’s?
Karl hat mir die Durchführung eines Standard-Basis Seminars auf Englisch in Bulgarien weiterreichen wollen. Er wusste, dass ich dieses Seminarthema bereits weit über hundertmal abgehalten hatte, genau so wie er.
Und er wusste auch, dass ich bereits darum gebeten hatte, mir dieses Thema nicht mehr zu geben. Mich erfüllte dieses Thema mit intensiver Langeweile. Anders herum wusste ich, dass er es gerne bequem hat und längere Anreisen vermeidet.
Meine Entscheidung war konsequent und so habe ich den Auftragsweiterschiebe-Versuch höflich abgelehnt.
Seine Antwort war ein Überrumpelungsversuch: „Hannes, du kannst dir nicht nur die Rosinen herauspicken!“
Meine Antwort: „Karl, das ist ein begrenzender Glaubenssatz! Ich kann!“
Damit hat er hörbar nicht gerechnet. Nach einer langen, stillen Sekunde haben wir beide echt und herzhaft gelacht.
Psychologisch betrachtet geht’s um Glaubenssätze. „Du kannst nicht nur Rosinen herauspicken“ ist ein Appell an mich, der es ihm ermöglichen soll, dass er sich die Rosinen herauspickt. Die unausgesprochene Meta-Botschaft an mich war: „Sei brav und ordne dich unter.“
Im Lauf des Lebens wird es so sein, dass man viele begrenzende Glaubenssätze hört. Die gute Nachricht: man darf diese zahllosen, harmlos erscheinenden Sätzchen hinterfragen, ja sogar verwerfen.
Wenn man sie nicht hinterfragt, entfalten sie Wirkung im eigenen Gehirn. Wie kleine Neuro-Bots im Autopilotmodus machen sie dich klein, begrenzen dich in deinen eigenen Möglichkeiten. Das kann man natürlich zulassen, muss man aber nicht.
Achte mal im Alltag auf solche kleinen Sätzchen, die den moralischen Zeigefinger erheben. Diese Sätzchen kommen aus allen Richtungen, manchmal sogar aus dir selbst.
Sie zu erkennen ist die halbe Miete. Dann kannst du als erwachsener Mensch immer noch entscheiden – aber eben erwachsen und bewusst – ob sie dich in deinen Entscheidungen, Handlungen, Gefühlen leiten dürfen oder wirkungslos verhallen.
Viel Vergnügen und die eine oder andere Irritation dabei!
P.S.: Karl hat mir nie wieder einen uninteressanten Auftrag versucht zuzuschieben. Interessante Aufträge haben wie noch einige gemeinsam abgewickelt.