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Systemisches Change Management ist wie Tanzen

Wie wir soziale Systeme nachhaltig beeinflussen können

Im Kontext von Organisationen, Teams, Familien oder Paarbeziehungen sehen wir immer wieder denselben Wunsch: Etwas soll sich verändern. Oft beschränkt sich dieser Wunsch jedoch darauf, dass „die anderen“ sich anders verhalten mögen. Doch wie wir aus systemischer Perspektive wissen, sind soziale Systeme lebendig und dynamisch. Gerade deswegen lohnt es sich, den Veränderungsprozess näher zu betrachten und mögliche Interventionen wohlüberlegt zu gestalten.

Als Führungskraft ist man Teil des Systems und steht – ob man will oder nicht – unter Beobachtung. Und das Umfeld reagiert – auf jede Bewegung. Immer.

Es ist ein bisschen wie tanzen. Wer zu viel führt, ist kein guter Tanzpartner. Wer ganz los lässt auch nicht.


1. Was sind funktionale Systeme?

In der Systemtheorie wird davon ausgegangen, dass jede soziale Gemeinschaft – sei es ein Unternehmen, ein Team, eine Familie oder eine Paarbeziehung – ein System mit interdependenten Elementen ist. Diese Elemente (Menschen, Rollen, Routinen, Werte und Normen) stehen in ständiger Wechselwirkung zueinander und passen sich aneinander an. Man spricht in diesem Zusammenhang von funktionalen Systemen, weil alle Teile zusammenwirken, damit das Gesamtsystem in irgendeiner Form „funktioniert“.

  • Beispiel: Ein Team in einer Organisation hat bestimmte Rollen (Projektleitung, Sachbearbeitung etc.), Regeln (z. B. Abstimmungsprozesse) und gemeinsame Ziele. Das Team „funktioniert“ dann, wenn jeder seine Rolle ausfüllt, Absprachen eingehalten werden und alle eine gemeinsame Zielerreichung anstreben.

2. Zwei Ansätze der Veränderung

2.1. Ansatz 1: „Der andere soll sich verändern“

Bei diesem Ansatz wird häufig versucht, Veränderungen von oben oder von außen zu verordnen. Klassischerweise kann das in einem Team heißen, dass die Führungskraft mit Druck, Sanktionen oder Autorität neue Verhaltensregeln vorgibt.

  • Problematik:
    1. Geringe Nachhaltigkeit: Sobald die kontrollierende Instanz wegfällt („Ist die Katze aus dem Haus, feiern die Mäuse Kirchtag“), nehmen die alten Verhaltensweisen oft schnell wieder überhand.
    2. Motivationseinbruch: Betroffene fühlen sich entmündigt und reagieren oftmals mit Dienst nach Vorschrift oder passiver Resistenz.
    3. Beziehungsstörungen: Ein autoritärer oder direktiver Führungsstil kann das Vertrauen beschädigen und Konflikte schüren.

Obwohl dieser Ansatz scheinbar schnell greift („ich bestimme, du folgst“), ist er langfristig selten erfolgreich und führt häufig zu Widerstand und Demotivation.

2.2. Ansatz 2: „Du bist Teil des Systems – beginne bei dir selbst“

Der moderne systemische Blick setzt an der Überzeugung an, dass man im eigenen Bereich (seinem „Verhaltensspielraum“) ansetzen soll, wenn man eine Veränderung im größeren Umfeld anstoßen möchte. Sobald man seine Haltung oder Handlungen anpasst, entstehen neue Impulse, an denen sich die anderen Mitglieder des Systems unweigerlich orientieren werden.

  • Voraussetzung:
    1. Selbstreflexion: Man muss sich bewusst machen, wie man selbst zu Problemen oder Mustern beiträgt und wo man Handlungsmöglichkeiten hat.
    2. Langfristige Perspektive: Systemische Veränderungen laufen nicht über Nacht ab. Es braucht Geduld, Beobachtung und Anpassung an die Reaktionen der anderen.
    3. Experimentierfreude: Neue Verhaltensweisen müssen manchmal justiert und verfeinert werden, weil man nicht immer vorhersehen kann, wie das System darauf reagiert.

Diese systemische Herangehensweise macht Beziehungen auf Augenhöhe möglich und schafft oft ein Klima des Vertrauens. Sie ist zwar weniger spektakulär als der „große Befehl“, zeigt aber langfristig nachhaltigere Effekte.


3. Drei Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen

Im Folgenden werden drei Beispiele erläutert, wie punktuelle, aber gezielte Veränderungen im eigenen Verhalten das gesamte System beeinflussen können.


3.1. Beispiel aus dem Unternehmenskontext (Teamleitung)

Ausgangslage: Eine Teamleitung steht vor dem Problem, dass ihre Mitarbeiter:innen nicht genug Eigeninitiative zeigen. Klassischerweise versucht die Führungskraft jetzt, straffere Regeln einzuführen: Deadlines verkürzen, öfter kontrollieren, Sanktionen bei Versäumnissen androhen.

Alte Methode (Ansatz 1): Befehle und Vorschriften werden verschärft. Das Team fühlt sich gegängelt und reagiert mit dem absoluten Minimum an Engagement. Sobald die Teamleitung abwesend ist, fallen sie in alte Muster zurück.

Neue Methode (Ansatz 2): Die Teamleitung beginnt, mit gutem Beispiel voranzugehen und Eigeninitiative vorzuleben:

  • Sie startet kleine Pilotprojekte, in denen Kreativität gefördert wird.
  • Sie gewährt Freiräume, indem sie Verantwortung überträgt und Rückmeldungen einholt, anstatt starre Vorgaben zu machen.
  • Sie setzt regelmäßige Kurz-Feedback-Runden an, in denen sie selbst auch offen ihre Lernfelder anspricht („Das habe ich noch nie gemacht, ich probiere es aus“).

Effekt: Die Mitarbeiter:innen sehen, dass Eigeninitiative wirklich erwünscht ist und dass Fehler nicht sofort sanktioniert, sondern als Lernmöglichkeit betrachtet werden. Damit entwickelt sich über die Zeit eine echte Veränderung in der Teamdynamik.


3.2. Beispiel aus dem familiären Umfeld (Eltern-Kind-Beziehung)

Ausgangslage: Eltern beklagen, dass ihr Kind zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbringt oder zu spät ins Bett geht.

Alte Methode (Ansatz 1): Die Eltern erlassen strikte Verbote oder schalten den WLAN-Router ab einer bestimmten Uhrzeit aus. Das Kind weicht daraufhin möglicherweise auf mobile Daten aus oder es geht Konflikten mit den Eltern ganz aus dem Weg, indem es sich komplett zurückzieht.

Neue Methode (Ansatz 2): Die Eltern reflektieren ihr eigenes Medienverhalten und ihre Vorbildfunktion. Sie entschließen sich, gemeinsam medienfreie Zeiten zu etablieren – etwa indem sie selbst das Smartphone weglegen und anstatt dessen ein gemeinsames Abendritual pflegen (Spieleabend, gemeinsames Kochen).

  • Eltern vereinbaren Zeiten, in denen alle (auch sie selbst) nicht aufs Handy schauen.
  • Sie beobachten zusammen, wie sich die Qualität der Gespräche und der Schlafrhythmus verbessern.

Effekt: Indem die Eltern in ihrem eigenen Verhalten eine Veränderung vornehmen, geben sie einen spürbaren Impuls. Das Kind passt sich – oft nach einer kurzen Eingewöhnung – leichter an, weil es sieht, dass die Regeln von allen getragen werden.


3.3. Beispiel aus dem sportlichen Bereich (Mannschaftssport)

Ausgangslage: In einer Volleyball-Mannschaft herrscht schlechte Stimmung, weil bei Niederlagen gegenseitige Schuldzuweisungen stattfinden („Du hast deinen Block nicht gemacht“, „Deine Annahmen sind schwach“). Es entsteht eine Negativspirale.

Alte Methode (Ansatz 1): Der Trainer versucht mit drastischen Methoden, z. B. zusätzlichem Straftraining, härteren Ansagen oder Einzelgesprächen, die Leistungsträger „zur Räson zu bringen“. Dies kann kurzfristig zu mehr Leistung führen, oft aber nur aus Angst und Druck heraus. Bei der kleinsten Lockerung oder Abwesenheit des Trainers fällt das Team in alte Muster zurück.

Neue Methode (Ansatz 2): Der Trainer ändert seine eigene Kommunikation im Training:

  • Er setzt auf positives, konstruktives Feedback, auch wenn mal ein Fehler passiert.
  • Er übt sich selbst in einer Ressourcenorientierung und verweist auf Fortschritte und gute Leistungen, anstatt nur auf Defizite zu schauen.
  • Er führt Feedback-Runden ein, in denen er die Spieler:innen aktiv zu gegenseitiger Unterstützung animiert („Was hast du heute besonders gut hinbekommen?“, „Wie kannst du dem nächsten Spieler helfen, sich zu verbessern?“).

Effekt: Nach einiger Zeit beginnt das Team, sich an diesem Kommunikationsstil zu orientieren. Die Spieler:innen sehen, dass der Trainer Fehler als Lernchance betrachtet und fangen an, sich gegenseitig konstruktiv zu bestärken. Die Stimmung verbessert sich und auf lange Sicht steigt auch die Gesamtleistung.


4. Fazit: Der Tanz mit dem System

Aus systemischer Perspektive führt eine Veränderung im „eigenen“ Verhaltensspielraum meist nachhaltiger zum Ziel, weil dadurch eine Dynamik in Gang gesetzt wird, die das gesamte System langfristig umgestaltet. Diese Art der Intervention gleicht einem Tanz, bei dem wir unsere Schritte ändern und so unser Gegenüber zu neuen Schritten einladen.

  • Langfristiger Nutzen:
    • Mehr Akzeptanz für Veränderungen, da alle Beteiligten eingebunden sind.
    • Höhere Motivation durch größeres Gefühl von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.
    • Systemische Robustheit: Die Veränderung bleibt bestehen, auch wenn die „Initiator:innen“ nicht ständig präsent sind.

Gut gemeinte, direktive Eingriffe, Befehle oder Verordnungen können diesen Effekt nicht erzielen und sind oft sogar kontraproduktiv. Sie minimieren Teilhabe und Eigeninitiative, brüskieren Beteiligte und sind damit wenig erfolgreich. Wer eine stabile Veränderung in einem funktionalen System anstoßen will, sollte den Blick auf das eigene Verhalten richten und behutsam, aber konsequent kleine Schritte der Veränderung tanzen – bis das gesamte System neue, gesündere Schritte wagt.

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