„Krise als Chance“ – stimmt schon. Aber das alleine ist zu naiv!
Krisen gehören zum Leben – ob in der Gesellschaft, in Organisationen oder auf individueller Ebene.
Sie unterscheiden sich von Problemen dadurch, dass es keine bekannten Lösungswege gibt, die sich einfach adaptieren lassen. Während ein Problem mit guten analytischen Fähigkeiten und ausreichend Zeit oft wenigsten zufriedenstellend gelöst werden kann, verlangt eine Krise etwas grundlegend Neues.
Warum stellen Krisen eine besondere Herausforderung dar und sind zugleich eine Chance für grundlegende Veränderungen?
Wie können Führungskräfte sowohl persönlich als auch auf organisationaler Ebene mit Krisen umgehen, um sich selbst und der Organisation „Flügel wachsen“ zu lassen und einen echten Prozessmusterwechsel zu ermöglichen.
- Krise vs. Problem: eine begriffliche Abgrenzung
Probleme sind in der Regel bekannte, wenn auch schwierige Herausforderungen, für die es aber bekannte und bewährte Methoden und Vorgehensweisen gibt. Typischerweise setzen Organisationen auf Optimierungsmaßnahmen oder Prozessoptimierungen, die sich gut in bereits bestehende Abläufe integrieren lassen. Das ist das, was jahrzehntelang funktioniert hat und was in Managementausbildung oder MBA-Programmen lange gelehrt wurde. Das reicht allerdings nur so weit, wie das Problem in bereits bekanntem Terrain liegt – also in einem Bereich, wo konventinelle Tools funktionieren.
Krisen hingegen sind durch eine fundamentale Neuartigkeit der Problemlage gekennzeichnet. Es handelt sich um Situationen, in denen traditionelle Lösungswege nicht nur versagen, sondern die Situation mitunter sogar verschärfen können. Damit geht häufig ein hohes Maß an Unsicherheit und emotionalem Stress einher; man fühlt sich wie im freien Fall, ohne Gewissheit, ob und wann sich „Flügel entfalten“ können. Eine Krise kann damit als „radikal neuartige Problemlage“ verstanden werden, deren Bewältigung nur durch einen umfassenden Wandel (Disruption, Prozessmusterwechsel) gelingen kann.
- Merkmale und Dynamik einer Krise
- Plötzliche oder graduelle Eskalation
Krisen können sich entweder schlagartig äußern – zum Beispiel durch externe Schocks, wie Naturkatastrophen oder unerwartete Marktveränderungen – oder sich über einen längeren Zeitraum aufbauen, etwa bei schwelenden Konflikten, die ignoriert werden. Oft wird zunächst versucht, die gewohnten Problemlösungsmethoden (z. B. Optimierung oder Prozessoptimierung) anzuwenden. Bei echten Krisen reicht das aber nicht aus. - Unsicherheit und Kontrollverlust
Die in einer Krise erlebte Unsicherheit führt leicht zu Angst. In der Psychologie spricht man von „Regression“ unter Belastung: Man fällt auf ältere, vertrautere Verhaltensmuster zurück – etwa autoritäre Entscheidungsprozesse oder Aktionismus ohne klare Strategie. Diese Regressionsprozesse verschärfen jedoch oftmals die Krise, da sie Kreativität und Offenheit blockieren. - Verstärkende Rückkopplungen
In komplexen Systemen wirken Krisen oft als Verstärker schon bestehender Probleme. Beispielsweise kann ein kleiner Fehler in einer hochkomplexen Lieferkette zu dominoartigen Zusammenbrüchen führen. Sobald das System kippt, genügt ein geringer Auslöser, um dramatische Folgen zu erzeugen. - Chance für grundlegende Veränderung
Krisen stellen zugleich den Ausgangspunkt für tiefgehende Innovation dar. Gerade weil etablierte Vorgehensweisen nicht mehr funktionieren, entsteht der Zwang und gleichzeitig der Freiraum, neue Ideen zu entwickeln und radikale Umbrüche zu wagen. Begriffe wie „Disruption“, „Transformation“ oder „Paradigmenwechsel“ stehen hier Pate für jenen Prozess, in dem tatsächlich ein neues Level des Denkens oder Handelns notwendig wird.
- Psychologische Aspekte: Angst, Regression und die Suche nach neuen Wegen
Das Bild vom freien Fall, bei dem man zunächst mit den Armen rudert, um sich zu stabilisieren, ist eine treffende Analogie. Zunächst versucht man instinktiv alles, was einem vertraut ist. Bleibt die Situation bedrohlich, wächst jedoch die Unsicherheit, und damit einhergehend oft die Angst. Diese Angst kann zu:
- Verleugnung („Es ist nur ein vorübergehendes Problem, wir müssen nur etwas mehr optimieren.“)
- Erstarrung („Wir sind machtlos. Es gibt keinen Ausweg.“)
- Aktionismus („Hauptsache, irgendetwas tun, egal wie sinnvoll es ist.“)
Diese psychologischen Mechanismen führen häufig zu kurzfristigen, unzureichenden Maßnahmen, die das Risiko erhöhen, dass der eigentliche Aufprall noch schmerzhafter wird. Gerade Führungskräfte sind hier in der Verantwortung, die eigene Angst zu erkennen, sie konstruktiv zu verarbeiten und auf dieser Basis handlungsfähig zu bleiben.
- Krisenmanagement als Prozessmusterwechsel
Damit „Flügel wachsen“ können, braucht es etwas radikal anderes als nur „mehr vom Gleichen“. Denn „mehr vom Gleichen“ bezieht sich meist auf Optimierungen oder Prozessoptimierungen. In einer echten Krise jedoch ist ein Prozessmusterwechsel erforderlich – ein Sprung in gänzlich neues Denken und Handeln. Organisationen und Individuen müssen bereit sein, alte Muster abzulegen und sich auf neue Denk- und Handlungsweisen einzulassen. Dabei lassen sich verschiedene Phasen des Krisenmanagements – adaptiert aus Modellen der Organisations- und Führungslehre – unterscheiden:
- Früherkennung (Sensemaking)
- Proaktive Beobachtung der Umwelt (Markt, Technologien, gesellschaftliche Veränderungen).
- Kontinuierlicher Dialog in Teams, um schwache Signale aufzuspüren.
- Eine Lernkultur etablieren, die Warnhinweise ernst nimmt statt zu verdrängen.
- Stabilisierung
- Akute Schocks abmildern, indem man Handlungsfähigkeit demonstriert (Notfallpläne, Taskforces).
- Kommunikation der Führungskräfte: offen, transparent und zuversichtlich.
- Schutz der organisationalen Kernfunktionen (z. B. Finanzsicherheit, essentielle Infrastruktur).
- Neuausrichtung
- Identifikation von Innovationsfeldern und „ungewohnten“ Kooperationspartnern.
- Offenheit für radikale Ideen und neue Geschäftsmodelle.
- Mut, disruptive Technologien oder alternative Strukturen zu etablieren.
- Integration und Lernen
- Evaluation des Veränderungsprozesses: Was hat funktioniert, was nicht?
- Institutionalisierung neuer Denk- und Verhaltensmuster: Leitlinien, kulturelle Verankerung.
- Kontinuierliches Lernen für die Zukunft, um schneller reagieren zu können.
- Anregungen für Führungskräfte
5.1 Persönlicher Umgang mit Krisen
- Selbstreflexion und emotionale Regulation
- Regelmäßige Reflexionsrunden (z. B. Coaching, Supervision, Austausch in Vertrauenskreisen).
- Bewusster Umgang mit eigenen Ängsten: Sie akzeptieren, aber nicht davon lähmen lassen.
- Methoden wie Achtsamkeitstraining oder Resilienzübungen können helfen, innere Stabilität zu finden.
- Klare Priorisierung
- In Krisensituationen fällt die Informationsmenge oft exponentiell an. Führungskräfte müssen lernen, was wirklich wichtig ist und worauf verzichtet werden kann.
- Bewusste Entscheidung: welche Meetings sind notwendig, wo kann man Zeit und Ressourcen schonen?
- Netzwerke und Unterstützung
- Sich mit anderen Führungskräften austauschen, um Perspektiven zu erhalten und kollektive Erfahrungen zu nutzen.
- Professionelle Beratung oder Mentoring in Erwägung ziehen, um blinde Flecken im eigenen Handeln zu erkennen.
5.2 Handlungsfähigkeit in der Organisation sichern
- Psychologische Sicherheit schaffen
- Eine Kultur fördern, in der Mitarbeitende ihre Bedenken und Ideen offen äußern können.
- Fehlertoleranz etablieren: Krisen sind Phasen, in denen Prototyping, Ausprobieren und Lernen essenziell sind.
- Offene, ehrliche Kommunikation
- Transparenz über die tatsächliche Lage: Ziele und Risiken klar benennen, anstatt eine falsche Erfolgsgeschichte zu erzählen.
- Regelmäßige Updates, in denen Klartext gesprochen wird, nehmen Unsicherheiten und wirken Gerüchten entgegen.
- Experimentierfelder und Innovationseinheiten aufbauen
- Separate Teams oder „Labs“ gründen, in denen abseits des Tagesgeschäfts neue Ideen und Geschäftsmodelle entwickelt werden können.
- Innovatives Denken durch interdisziplinäre Zusammensetzung und flache Hierarchien fördern.
- Vision und Zuversicht vermitteln
- Auch in der tiefsten Krise kann eine inspirierende Vision die Richtung weisen.
- Die Narrative der „Krise als Chance“ sollte nicht als reines Lippenbekenntnis benutzt werden, sondern als ernst gemeinte Einladung, sich auf Neues einzulassen.
- Prävention durch strategische Weitsicht
Idealerweise werden Organisationen von Krisen nicht vollkommen überrascht, weil sie Mechanismen implementiert haben, die latente Risiken frühzeitig sichtbar machen. Dieser Prozess umfasst:
- Umwelt-Scanning: Regelmäßige Beobachtung von Markttrends, Technologien, sozialen Veränderungen.
- Frühwarnindikatoren: Definierte Kennzahlen und qualitative Signale, die auf ein mögliches Kippen des Systems hinweisen.
- Szenario-Planung: Durch das Durchspielen verschiedener Zukunftsszenarien können Krisen antizipiert werden.
- Schutzfaktoren (Reserven und Redundanzen): Eine gewisse „Organisations-Pufferung“ durch Rücklagen, flexible Strukturen und verteiltes Wissen hilft, Schocks abzufedern.
Auf diese Weise kann man das, was später eine ausgewachsene Krise sein könnte, bereits in einem „transformatorischen“ Kontext bearbeiten – das nennt man dann nicht Krisenmanagement, sondern „Change Management“ oder „Transformation“.
- Fazit
Krisen sind mehr als nur große Probleme. Sie sind Situationen, in denen das Bekannte versagt und das Neue noch nicht sichtbar ist. Das Erleben von Angst, Unsicherheit und das Gefühl des „freien Falls“ ist Teil des Krisenprozesses. Gerade in solchen Phasen öffnet sich jedoch ein Möglichkeitsraum für tiefgreifende Erneuerung: „Flügel zu entwickeln“, die alte Grenzen überwinden und zu ungeahnten Potenzialen führen.
Führungskräfte sind entscheidend dafür, ob eine Organisation in der Krise erstarrt oder sie als Katalysator für grundlegendes Wachstum nutzt. Sie sollten die eigene Resilienz stärken, offen kommunizieren, psychologische Sicherheit schaffen und innovative Freiräume eröffnen. Damit wird ein Rahmen geschaffen, in dem sich die notwendige Transformation vollziehen kann – lange bevor der Boden zu nahe kommt. Strategische Weitsicht und systematische Früherkennung ermöglichen zudem, Krisen bereits am Horizont zu erkennen, sodass man ihnen nicht unvorbereitet begegnet, sondern die Potenziale des Wandels aktiv gestaltet.
Krisen sind daher mehr als nur destruktive Momente des Kontrollverlusts – sie sind auch Gelegenheiten für radikale Erneuerung und den Aufbruch in etwas grundlegend Neues.