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Der sekundäre Problemgewinn oder das Gute im Schlechten

Der sekundäre Problemgewinn

Manchmal staunt man über das Verhalten anderer Menschen, vor allem wenn es widersprüchlich, unlogisch oder gar schädlich erscheint – und vielleicht tatsächlich auch ist. Systemische Ansätze gehen jedoch davon aus, dass hinter jedem Verhalten eine positive Absicht steckt. Die Frage ist: Für wen und auf welcher Ebene zeigt sich diese Absicht?

Betrachtet man den Begriff „sekundärer Problemgewinn“ genauer, lässt sich erkennen, dass ein Problem, das primär als solches wahrgenommen wird, auf einer verborgenen Ebene durchaus Vorteile mit sich bringen kann. Diese Vorteile sind in den meisten Fällen nicht bewusst, sondern unbewusst.


Fallvignette

Ein Klient, männlich, Mitte 50, sucht psychologische Beratung auf. Das Gespräch gekürzt wiedergegeben:

Psychologe: „Was führt Sie zu mir?“
Klient: „Ich habe Morbus Crohn, die Ärzte sagen, es sei unheilbar.“
P: „Was kann ich für Sie tun?“
K: „Ich möchte innerlich Frieden mit meiner Krankheit schließen. Sie schränkt mich sehr ein, und meine Lebensqualität ist nicht mehr gut.“
P: „Okay. Ich stelle Ihnen jetzt eine Frage, die vielleicht irritierend klingt, und bitte Sie, trotzdem darüber nachzudenken.“
K: „In Ordnung.“
P: „Auch wenn die Krankheit Sie einschränkt – welche Vorteile haben Sie dennoch durch die Erkrankung?“
Der Klient ist sichtlich irritiert, überlegt kurz und antwortet: „Ich habe zwei Vorteile. Erstens: Ich hasse meinen Job und bin jetzt seit einem halben Jahr im Krankenstand. Wenn ich noch weitere sechs Monate im Krankenstand bleibe, kann ich in Rente gehen.“ Er denkt weiter nach. „Und zweitens: Ich bekomme viel mehr Liebe von meiner Frau und meinen Kindern.“
P: „Okay, das sind die Vorteile?“
K: „Ja. Und bis ich in Frührente bin, möchte ich an meiner Erkrankung gar nichts ändern.“


Diskussion der Fallvignette

Dem Klienten wird durch die Frage bewusst, dass seine Krankheit nicht nur Einschränkungen und Probleme verursacht, sondern ihm auch Nutzen bringt.

Manche würden nun vorschnell behaupten, der Klient habe die Krankheit, weil er sie „braucht“. Doch Vorsicht: Diese Schlussfolgerung ist entschieden zurückzuweisen. Krankheiten sind Krankheiten – sie entstehen nicht absichtlich. Die Erkrankung in die willkürliche Verantwortung des Patienten zu legen, wäre jedenfalls falsch und unverantwortlich. Der Klient hat seine Krankheit nicht bewusst oder absichtlich herbeigeführt.

Allerdings hat er sich bis zu diesem Punkt ausschließlich als Opfer seiner Krankheit wahrgenommen. Die Frage nach dem sekundären Problemgewinn eröffnet ihm eine neue Perspektive: Er erkennt, dass er nicht nur Opfer ist, sondern die Krankheit auch für sich nutzen kann – beruflich, um aus einem ungeliebten Job auszusteigen, und privat, um mehr Zuwendung von seiner Familie zu erfahren.


Die subjektive Bewertung

Ob der Nutzen (Problemgewinn) den Preis des Problems rechtfertigt, ist immer eine subjektive Frage. Außenstehende mögen dazu eine Meinung haben, doch diese ist selten relevant. Jeder Mensch führt – oft unbewusst – eine Art innere Buchhaltung:

Vorteile des Problems (Haben)Nachteile des Problems (Soll) = Saldo

Solange der unbewusste Saldo positiv ist, bleibt die Motivation, das Problem zu lösen, gering. Denn trotz der negativen Aspekte überwiegen die Vorteile.

Diese Dynamik fasste Steve de Shazer, der Begründer der Kurzzeittherapie, prägnant zusammen:

„Gibt es ein Problem, das nicht gelöst wird und bestehen bleibt, hat immer irgendjemand einen Vorteil daraus, der subjektiv höher bewertet wird, als der gleichzeitige Schaden durch das Problem. Wenn jemand etwas in seinem Leben verändern möchte, ist es entscheidend, zunächst darauf zu schauen, was genau so bleiben soll, wie es ist.“


Nachhaltige Problemlösung und der sekundäre Problemgewinn

Um ein Problem nachhaltig zu lösen, muss sichergestellt werden, dass die Vorteile, die das Problem mit sich bringt, auf anderem Wege erzielt werden können. Nur dann verliert das Problem seine Funktion und wird überflüssig.

Ein einfaches Beispiel:

Ein Kind zeigt „schlimmes“ Verhalten, das bei Erwachsenen negative Reaktionen auslöst. Wenn das Kind jedoch die Erfahrung gemacht hat, dass es nur durch dieses Verhalten Aufmerksamkeit erhält, dann überwiegt für das Kind der Vorteil (Aufmerksamkeit) den Nachteil (Sanktionen).

Die Lösungsstrategie:
Das Kind sollte Aufmerksamkeit erhalten, wenn es sich positiv verhält. Gleichzeitig sollte das „schlimme“ Verhalten konsequent ignoriert werden. Auf diese Weise lernt das Kind, dass es die gewünschte Aufmerksamkeit auch ohne problematisches Verhalten erhalten kann.


Fazit

Wenn ein Problem hartnäckig bestehen bleibt, liegt der Verdacht nahe, dass es einen sekundären Problemgewinn gibt. Um dem Problem die Möglichkeit zu geben, sich aufzulösen, können folgende Schritte helfen:

  1. Das „Gute“ im „Schlechten“ identifizieren: Was sind die Vorteile des Problems?
  2. Alternativen schaffen: Wie können diese Vorteile erreicht werden, ohne das Problem aufrechtzuerhalten?
  3. Prüfen, ob es vertretbar ist: Ist es sinnvoll, diesen neuen Weg zu versuchen?
  4. Handeln und dranbleiben: Neue Verhaltensweisen müssen oft wiederholt geübt werden, bis sie sich etablieren.

Wird das Problem nicht mehr benötigt, löst es sich in der Regel auf bzw. wird es gelöst. Falls es dennoch bestehen bleibt, liegt das meist daran, dass die Vorteile noch nicht ausreichend durch andere Mittel erreichbar sind.

Oder, wie manche Therapeuten sagen würden:
„Das Problem ist zwar groß, aber offensichtlich noch nicht groß genug.“

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