Mut zum Scheitern aus systemtheoretischer Perspektive
Ein erMUTigender Leitfaden für Führungskräfte
Der Begriff „Mut zum Scheitern“ bleibt in vielen Organisationen ein Lippenbekenntnis. Obwohl Topmanager und Entscheidungsträger häufig betonen, wie wichtig Innovation und Risikobereitschaft seien, ist das tatsächliche Verhalten im Unternehmensalltag oft von Vorsicht und Angst geprägt. Doch in einer Welt stetigen Wandels kann nur bestehen, wer bereit ist zu experimentieren und aus Fehlschlägen zu lernen.
Gerade aus systemtheoretischer Sicht – die Organisationen als non-triviale, selbstreferentielle und autopoietische Systeme beschreibt – wird klar, wie entscheidend dahingehend gezielte Interventionen der Führung sind.
1. Warum Mut zum Scheitern gerade jetzt so wichtig ist
Die Herausforderungen vieler Branchen sind heute durch hohe Komplexität und dynamische Veränderungen gekennzeichnet. Mit dem rasanten technologischen Wandel und zunehmendem Wettbewerbsdruck wächst der Druck, immer schneller neue Lösungen zu entwickeln. Wer hier nur auf alte, bewährte Routinen setzt, läuft Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Gerade in non-trivialen Systemen (wie Organisationen) können Emergenz-Effekte, also das unvorhersehbare, plötzliche Auftreten bahnbrechender Innovationen, den entscheidenden Wettbewerbsvorteil bedeuten. Allerdings braucht es dazu Freiräume, in denen Experimente erlaubt sind.
Mut zum Scheitern heißt, bewusst Unsicherheiten in Kauf zu nehmen. Dies darf jedoch nicht mit Verantwortungslosigkeit verwechselt werden: Es geht um eine wohlüberlegte Balance zwischen Risikobereitschaft und realistischer Risikoabschätzung. Führungskräfte tragen hierbei eine Schlüsselverantwortung. Sie müssen die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, in denen die Belegschaft weder „kopflos“ ins Risiko stürzt noch in Angststarre verharrt.
2. Systemtheoretische Grundpfeiler und ihre Relevanz für Führungskräfte
Damit Führungskräfte den „Mut zum Scheitern“ erfolgreich in ihrem Unternehmen verankern können, lohnt sich der Blick auf zentrale Begriffe der Systemtheorie. Diese zeigen, warum das bloße Ausgeben von Parolen („Wir sind jetzt innovativ!“ oder „Wir sind eh schon lange agil!“) oft ins Leere läuft – und stattdessen ein tiefgreifendes Verständnis der Dynamik sozialer Systeme erforderlich ist.
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Triviale Systeme
- Definition: Unbelebte Systeme, z.B. Maschinen. Sie sind deterministisch; gleicher Input führt zu gleichem Output.
- Fehlerbild in Organisationen: Führungskräfte neigen bisweilen dazu, Organisationen wie Maschinen zu behandeln („Wenn wir Budget X für Innovation bereitstellen, folgt automatisch Innovation Y“).
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Non-triviale Systeme
- Definition: Organisationen reagieren nicht linear und reproduzieren ihr Verhalten nicht einfach gleichbleibend. Gleicher Input kann an unterschiedlichen Tagen zu verschiedenen Outputs führen.
- Konsequenz: Mehr Budget oder ein offizieller „Freibrief zum Ausprobieren“ reichen alleine nicht aus; komplexe Wechselwirkungen (Kommunikation, Kultur, Machtstrukturen) beeinflussen das Geschehen.
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Selbstreferentialität
- Definition: Organisationen verweisen permanent auf sich selbst und legen neue Informationen (z. B. über Marktveränderungen) stets an bestehenden Routinen und Normen an. Bestehende Routinen und Businessrituale verfestigen die Organisation und geben ihr Identität. Dies kann zum Selbstzweck werden und die eigentliche Wertschöpfung und Sinngebung untergraben.
- Bedeutung für Fehlerkultur: Wenn ein Unternehmen tief verwurzelt ist in einer „Fehler=Versagen“-Mentalität, wird jede Initiative, die Mut zum Scheitern fördert, zunächst an dieser alten Haltung gemessen und möglicherweise blockiert.
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Autopoiese
- Definition: Soziale Systeme (Organisationen) erzeugen und erhalten ihre Strukturen selbst. Alles, was das System tut, nährt und reproduziert es permanent.
- Auswirkung: Wenn es gelingt, erste positive Erfahrungen mit „Fehlern als Lernchance“ zu machen und diese im System zu kommunizieren, kann sich das neue Denken (Experimentieren, offene Reflexion) allmählich im System „verankern“ und weiter vermehren.
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Emergenz
- Definition: In komplexen Systemen können plötzlich neuartige Ideen, Produkte oder Verhaltensweisen entstehen, die sich nicht aus den Einzelteilen allein ableiten lassen. Dies wird dann oft als „Disruption“ oder disruptive Innovation wahrgenommen.
- Motivation für Führungskräfte: Nur wenn Raum für Experimente geschaffen wird, kann sich Emergenz positiv entfalten. So entstehen innovative Lösungen, die man im Vorfeld kaum planen konnte.
3. Der Beitrag von Führung für eine Kultur des Muts zum Scheitern
Führungskräfte sind in ihren non-trivialen Systemen keine allmächtigen Steuerungsinstanzen. Vielmehr wirken sie in einem komplexen Geflecht aus Erwartungen, Normen und Strukturen. Dennoch haben sie eine besondere Stellung: Sie können durch ihr Verhalten und gezielte Interventionen entscheidende Impulse setzen, damit sich das System in Richtung einer offeneren Fehler- und Lernkultur bewegt.
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Vorbildfunktion authentisch leben
- Wer als Führungskraft offen über eigene Fehler spricht, signalisiert, dass Scheitern kein Tabu ist.
- Statt Fehler zu verstecken, sollte offen erklärt werden, wie es dazu kam und welche Schlüsse man daraus zieht. Das schafft Vertrauen.
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Psychologische Sicherheit schaffen
- Mitarbeitende sollen frei ihre Bedenken äußern und Ideen vorschlagen können, ohne Spott oder Sanktionen befürchten zu müssen.
- Dafür braucht es bewusste Gesprächssettings: regelmäßige Feedbackrunden, Retrospektiven, „After-Action-Reviews“ etc.
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Entscheidungsräume und Verantwortlichkeiten klären
- Eine Kultur des Muts zum Scheitern bedeutet nicht „Alles ist erlaubt“ – vielmehr muss klar sein, wer in welchem Rahmen Entscheidungen treffen darf.
- Sogenannte „Guardrails“ (Leitplanken) können helfen: Der Rahmen für Experimente wird abgesteckt (z. B. zeitlich, finanziell), so dass das Basisgeschäft nicht gefährdet wird.
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Gegen Schuldzuweisungen vorgehen
- In vielen Unternehmen ist noch immer tief verankert, dass „jemand“ für Fehler „haftbar“ zu machen sei.
- Führungskräfte müssen aktiv eingreifen, wenn Schuldige gesucht werden. Besser: „Wo liegen die systemischen Ursachen?“ und „Wie können wir aus diesem Misserfolg lernen?“.
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Innovations-Hubs und Pilotprojekte ermöglichen
- Spezielle Räume oder Projekte, in denen bewusst ausprobiert werden darf, senken die Angst vor großem Scheitern.
- Gelingt ein Projekt, kann der Erfolg in die Breite getragen werden; scheitert es, wird das Gelernte in den Rest der Organisation rückgekoppelt.
4. Praktische Schritte zur Implementierung einer lernfreundlichen Fehlerkultur
Der Aufbau einer Kultur, in der Scheitern als notwendiger Teil des Lernprozesses gilt, vollzieht sich nie über Nacht. Folgende Schritte haben sich in der Praxis bewährt:
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Analyse der bestehenden Unternehmenskultur
- Welche Narrative kursieren über Fehler? (Z. B. „Fehler bedeuten Inkompetenz.“)
- Welche informellen Regeln und Werte existieren? („Hier darf man nie Schwäche zeigen.“)
- Diese ungeschriebenen Gesetze aufzudecken, ist wichtig, um gezielt gegensteuern zu können.
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Training und Coaching von Führungskräften
- Workshops oder Coachings zum Thema „Umgang mit Fehlern“ und „Psychologische Sicherheit“ und „Systemisches Führen“ schärfen das Bewusstsein der Entscheidungsträger.
- Besonders wichtig ist der Umgang mit Emotionen: Scheitern ruft häufig Scham- oder Schuldgefühle hervor, die empathisch aufgefangen werden sollten.
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Förderung von interdisziplinären Teams
- Wenn verschiedene Perspektiven aufeinandertreffen, steigt die Wahrscheinlichkeit, unkonventionelle Lösungen zu finden.
- Je bunter die Zusammensetzung, desto eher können sich emergente (neue, überraschende) Ideen entfalten.
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Transparente Kommunikation von Zielen und Risiken
- Mitarbeitende müssen verstehen, warum Innovation wichtig ist und welche Risiken das Unternehmen bereit ist einzugehen.
- Eine klare Kommunikation über Misserfolge und ihre Folgen hilft, irrationale Ängste abzubauen.
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Fehler- und Lernforum etablieren
- Ein Format, in dem regelmäßig über gemachte Fehler und Lessons Learned berichtet wird, kann Teil einer neuen Routine werden.
- Dabei geht es nicht um eine Bloßstellung, sondern um den gemeinsamen Nutzen: „Was kann das gesamte System daraus lernen?“
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Integration ins Anreiz- und Karrieresystem
- Wer sich mutig für Innovation einsetzt und Risiken trägt, sollte in irgendeiner Form Wertschätzung erfahren.
- Führungskräfte können Lob, Auszeichnungen oder Entwicklungschancen einbringen, wenn jemand Verantwortung für ein gescheitertes Projekt übernimmt und gleichzeitig wertvolle Erkenntnisse liefert.
5. Wie Führungskräfte trotz eigener Unsicherheit Mut entwickeln können
Als Führungskraft hat man oft das Gefühl, unter besonderer Beobachtung zu stehen. Fehler oder Experimente, die schiefgehen, können das eigene Image gefährden. Wie kann also Mut gefördert werden, wenn ein gewisses Risiko stets bleibt?
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Mentale Modelle hinterfragen
- Viele Führungskräfte sind mit dem Glaubenssatz groß geworden, dass sie „alles im Griff haben“ müssen. Die moderne Arbeitswelt ist jedoch viel komplexer.
- Ein Perspektivwechsel: „Es ist ein Zeichen von Stärke, Risiken klug und verantwortungsvoll einzugehen.“
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Vertrauensvolle Netzwerke aufbauen
- Der Rückhalt im Führungsteam ist entscheidend. Wer einen Kreis von Unterstützern hat, fühlt sich sicherer, mutige Schritte zu gehen.
- Regelmäßiger Austausch darüber, welche Experimente geglückt oder gescheitert sind, macht Mut und liefert Praxiswissen.
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Fehler als Investition in die Zukunft sehen
- Selbst wenn ein Projekt scheitert, wird wertvolles Wissen geschaffen. Diese Erkenntnisse können zukünftig Kosten sparen oder neue Märkte erschließen.
- Studien zeigen, dass Unternehmen, die regelmäßig inkrementelle und radikale Innovationen wagen, langfristig erfolgreicher sind, weil sie Trends früher erkennen.
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Gemeinsame Sprache für Scheitern etablieren
- Anstatt „Fehler“ oder „Scheitern“ als Stigma zu benutzen, kann man neutralere oder konstruktive Begriffe etablieren (z. B. „Testphase“, „Lernschleife“).
- So wird das Negative ein Stück weit entemotionalisiert, ohne das Lernen zu schmälern.
6. Langfristige Perspektive: Organisationsentwicklung als Lernprozess
In der systemtheoretischen Betrachtung ist eine Organisation niemals ein starres Gebilde. Sie lernt und verändert sich durch jeden Kommunikationsakt. Umso wichtiger ist es, dass Führungskräfte dauerhaft darauf achten, wie neue Ideen, Feedback und Misserfolge im Alltag behandelt werden. Denn das System repliziert seine Kultur immer wieder aufs Neue (Autopoiese).
- Bewusste Rückkopplung: Erfolgsgeschichten von mutigen Pilotprojekten sollten in internen Kommunikationskanälen (Intranet, Newsletter, Townhall-Meetings) geteilt werden, damit sie das System durchdringen und andere inspirieren.
- Lernende Organisation: Im Sinne von Peter Senge und Niklas Luhmann sind Organisationen immer Lernumwelten – gewollt oder ungewollt. Die Frage ist, ob wir das Lernen aktiv gestalten oder dem Zufall überlassen.
- Sichtbarer Wandel: Sich ändernde Verhaltensweisen müssen auch strukturell begleitet werden. Neue Abteilungs- und Teamstrukturen, klar definierte Innovationsprozesse und veränderte Zielvereinbarungen sind sichtbare Marker dafür, dass Mut zum Scheitern nicht nur eine Modephrase ist, sondern gelebte Wirklichkeit wird.
7. Zusammenfassung
Führung in einer komplexen Welt bedeutet mehr, als nur klare Zielvorgaben zu machen und Budgets zu verteilen. Non-triviale Systeme wie Organisationen entfalten ihre Kraft durch emergente Prozesse, die ohne Experimentieren und damit verbundene Risiken nicht möglich sind. Gerade deshalb ist Mut zum Scheitern ein Eckpfeiler einer zukunftsorientierten Unternehmensstrategie.
- Aus systemtheoretischer Perspektive ist „Scheitern“ eine unvermeidliche Facette jedes Veränderungs- und Innovationsprozesses. Wichtig ist, wie das System damit umgeht.
- Führungskräfte können durch ein mutiges, authentisches Vorbild, durch Förderung psychologischer Sicherheit und durch das Etablieren lernorientierter Routinen entscheidende Impulse geben.
- Die Balance zwischen Wagnis und Absicherung zu finden, erfordert Feingefühl. Aber wer diese Gratwanderung meistert, öffnet seine Organisation für neue Ideen, Produkte und Geschäftschancen.
Letztlich ist Mut zum Scheitern nicht nur ein Schlagwort, sondern eine grundlegende Haltung, die Führungskräfte verkörpern und an ihre Teams weitergeben sollten. Durch gezielte Schritte wie die Einrichtung von Experimentierfeldern, eine klare Kommunikation über Risiken und die Wertschätzung von Lernfortschritten etabliert sich allmählich eine Kultur, in der Scheitern weder verteufelt noch leichtfertig hingenommen wird – sondern als wertvoller Bestandteil des Wegs zu bahnbrechenden Innovationen gilt.
Wer den Mut aufbringt, diese Kultur zu fördern, wird langfristig nicht nur Innovator, sondern auch Gestalter einer Organisation, die sich selbstbewusst den Herausforderungen der Zukunft stellt.