Konstruktivismus: Was bringt die Unterscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit
Unsere Wahrnehmung der Welt ist geprägt von der Art und Weise, wie wir sie interpretieren. Der Konstruktivismus, ein einflussreicher Ansatz in Philosophie, Psychologie und Systemtheorie, stellt die Frage: Ist die Welt, wie wir sie erleben, objektiv gegeben, oder ist sie vielmehr ein Produkt unserer Konstruktionen? In diesem Blogbeitrag geben wir eine Einführung in den Konstruktivismus, beleuchten den Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit und diskutieren die drei Ordnungsebenen der Wirklichkeit mit praktischen Beispielen.
Was ist Konstruktivismus?
Konstruktivismus ist eine erkenntnistheoretische Perspektive, die davon ausgeht, dass unsere Wirklichkeit nicht objektiv gegeben ist, sondern durch unsere Wahrnehmung, Interpretation und kognitive Verarbeitung konstruiert wird. Statt einer „objektiven“ Wahrheit existieren vielfältige Wirklichkeiten, die von individuellen und sozialen Prozessen abhängen.
- Grundannahme: Wissen ist nicht die passive Abbildung einer objektiven Welt, sondern das Ergebnis aktiver Konstruktion.
- Vertreter: Bekannte Vertreter des Konstruktivismus sind Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld und Humberto Maturana.
Der Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit
Im Konstruktivismus wird zwischen Realität und Wirklichkeit unterschieden:
Realität: Dies bezieht sich auf eine hypothetische, objektive Welt, die unabhängig von menschlicher Wahrnehmung existiert. Realität ist in diesem Sinne nicht direkt zugänglich, da wir sie nur durch unsere subjektiven Wahrnehmungsprozesse interpretieren können.
Wirklichkeit: Wirklichkeit bezeichnet die Welt, wie wir sie erleben und verstehen. Sie entsteht durch unsere individuellen und kollektiven Konstruktionen. Jeder Mensch erlebt eine einzigartige Wirklichkeit, geprägt durch seine Erfahrungen, Kultur und Denkweisen.
Die drei Ordnungsebenen der Wirklichkeit
Nach dem systemtheoretischen und konstruktivistischen Ansatz lassen sich drei Ebenen der Wirklichkeit unterscheiden, die unser Verständnis von Welt und Wirklichkeit strukturieren:
1. Die erste Ordnung: Die physische Wirklichkeit
- Beschreibung: Diese Ebene umfasst alles, was physisch wahrnehmbar ist, wie Objekte, Ereignisse und naturwissenschaftliche Phänomene.
- Beispiele:
- Ein Apfel, der auf den Boden fällt, wird durch die Gravitation erklärt.
- Das Wetter wird durch meteorologische Prozesse beschrieben.
- Bedeutung: Diese Ebene gilt als Grundlage unserer Wahrnehmung, wird jedoch immer durch subjektive Interpretation geformt.
2. Die zweite Ordnung: Die soziale Wirklichkeit
- Beschreibung: Diese Ebene umfasst die Wirklichkeit, die durch menschliche Kommunikation, kulturelle Praktiken und gesellschaftliche Konstrukte entsteht.
- Beispiele:
- Geld hat keinen physischen Wert, sondern erlangt Bedeutung durch kollektive Übereinkunft.
- Gesetze, Normen und Traditionen sind soziale Konstruktionen, die unser Verhalten lenken.
- Bedeutung: Diese Ebene zeigt, wie stark unser Denken und Handeln durch soziale und kulturelle Prozesse beeinflusst wird.
3. Die dritte Ordnung: Die individuelle Wirklichkeit
- Beschreibung: Diese Ebene umfasst die subjektive Wirklichkeit jedes Einzelnen, geprägt durch individuelle Wahrnehmungen, Erfahrungen und Interpretationen.
- Beispiele:
- Ein Bild kann bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Emotionen auslösen.
- Der Begriff „Erfolg“ wird von jeder Person unterschiedlich definiert.
- Bedeutung: Diese Ebene verdeutlicht die Einzigartigkeit der menschlichen Erfahrung und die Grenzen objektiver Wahrheitsansprüche.
Quellen der drei Wirklichkeitsebenen
Die Idee der drei Wirklichkeitsebenen entspringt der Integration verschiedener systemtheoretischer und konstruktivistischer Ansätze. Zu den zentralen Quellen gehören:
Heinz von Foerster: Der Begründer des radikalen Konstruktivismus betonte die Konstruktion von Wirklichkeit durch kognitive Systeme und lieferte wichtige Grundlagen für die Differenzierung zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung.
Niklas Luhmann: Der Systemtheoretiker untersuchte, wie soziale und psychische Systeme jeweils ihre eigene Wirklichkeit konstruieren, und schuf damit eine differenzierte Grundlage für die Analyse von Systemen.
Paul Watzlawick: Seine Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus und zur Kommunikationstheorie verdeutlichten, wie Wirklichkeit durch Sprache und soziale Interaktion entsteht.
Karl Popper: Mit seiner Drei-Welten-Theorie lieferte Popper ein konzeptionelles Modell zur Differenzierung zwischen der physischen Welt, der Welt subjektiver Erfahrungen und der Welt objektivierter Inhalte (z. B. kulturelle Artefakte, Wissenschaft, Kunst).
Vorteile und Herausforderungen des konstruktivistischen Ansatzes
Vorteile:
- Förderung von Reflexion: Der Konstruktivismus eröffnet die Möglichkeit, eigene Denk- und Wahrnehmungsprozesse kritisch zu hinterfragen.
- Flexibilität: Er ermöglicht ein dynamisches Verständnis von Wissen und Wirklichkeit, das anpassungsfähig an verschiedene Kontexte ist.
- Vielfalt: Der Ansatz anerkennt die Vielfalt von Perspektiven und eröffnet damit ein breiteres Verständnis komplexer Phänomene.
Herausforderungen:
- Relativismus: Die Anerkennung vieler Wirklichkeiten kann es erschweren, universelle Prinzipien oder Handlungsrichtlinien zu definieren.
- Komplexität: Die Reflexion über eigene Konstruktionen erfordert ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und intellektueller Anstrengung.
Fazit
Der Konstruktivismus bietet eine wertvolle Perspektive, um die Unterscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit zu verstehen und die Komplexität menschlicher Wahrnehmung und Interaktion zu reflektieren. Die drei Ordnungsebenen der Wirklichkeit verdeutlichen, wie physische, soziale und individuelle Aspekte zusammenwirken, um unser Weltbild zu formen.
Gerade in einer Welt, die durch kulturelle Vielfalt und technologische Transformation geprägt ist, hilft der konstruktivistische Ansatz, Offenheit für unterschiedliche Sichtweisen zu entwickeln und kritisch mit scheinbaren „Wahrheiten“ umzugehen. Damit wird der Konstruktivismus nicht nur zu einem intellektuellen Werkzeug, sondern auch zu einer praktischen Haltung für den Umgang mit der Komplexität der modernen Welt.